Freitag, 28. Juli 2006
Da hätte man ja auch Jan Ullrich fahren lassen können
Ich hatte mir fest vorgenommen, nur um den Preis eines selbst abgehackten Fußes auf aktuelle Themen einzugehen, aber siehe, Fuß, so ist der Lauf der Welt: Gerade noch in tragender Funktion, wird man abgehackt von den Leuten, von denen man dachte, dass man für mehr als nur einen Fußabtreter, für einen Fuß eben, gehalten und eben dafür geschätzt würde. Und, je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger bin ich durch mein Versprechen genötigt, tatsächlich MEINEN Fuß abzuhacken. Solange ich es nur selbst tue, ist alles möglich! Das Gewissen verzieht sich wieder in seine innerseelische Opiumhöhle. Ich sehe noch einmal über die Schulter, murmele "Der Adler ist gelandet" in meine als Uhr getarnte Sprechverbindung zur Operationszentrale, die sich in einem Anflug von unpassender Heiterkeit den Decknamen "guten Geschmack" gab und mir "Affront" zuwies. "Affront an guten Geschmack", dass ich nicht lache. Jedenfalls murmele ich irgendwas und lege los. Achtung:

Da hätte man ja auch Jan Ullrich fahren lassen können. Den armen Kerl und seinen Hauptkonkurrenten , den grinsenden Ivan, von der Tour wegen Dopingverdachts auszuschließen, nur damit ein gedopter Fahrer gewinnt - welch' Kleinod des feinschleifenden Schicksals. Ein Meisterstück. Aber dieses Meisterstück hat mir - und hier beginnt das Übel - die Interviews vorenthalten, in denen der nämliche Jan Ullrich sagt "Ich habe mich dieses Jahr gut vorbereitet und will gewinnen." Diese Sätze wärmen mein Herz, mehr noch, they give me a wonderful sense of well-being. Dieser Gesichtsausdruck, der jeden Zuschauer zum Komplizen macht, indem er suggeriert, dass wir alle wissen - und, oh ja, Jan, das tun wir - dass das Blödsinn ist, dass niemand, dem die Sonne Südfrankreichs nicht das Hirn verbrannte, täglich 200km auf einem harten Fahradsattel zubringt, wenn er genug Geld hat, stattdessen schöne Dinge zu tun. Aber ja, alle erwarten von dir, dass Du das sagst, und es hört sich ja auch nett an, sowas mal zu sagen. Wenn man es mir anböte, einen solchen Satz zu sagen - ich lehnte nicht ab. Und ich würde gleichermaßen denken: Welch fabulöser Unsinn! Ich könnte ja auch gleich "Der König ist tot, lang lebe der König!" rufen. Oder: "Meine Damen und Herren: Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika!" Oder: "Nur durch Deregulierung werden wir es schaffen, wieder Weltspitze zu sein!" Wobei dieser letzte Satz ein wenig unfair ist; er tut den anderen Unrecht, ist nicht nur sinnlos, sondern eine offene Lüge. Wie allerdings Jan Ullrichs Behauptung auch. Vielleicht liegt es an dem "Ull-" im Namen, den wer könnte je den Maradona des dreisten Lügens vergessen - oder besser, den Pelé, denn el Diego ist mit "der Hand Gottes" natürlich lui-même vertreten, - also den Michelangelo unter den Bildhauern des Pathos. Aber nur an seinen Worten sollt ihr ihn erkennen: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!"
Ich beschließe hiermit im Namen der Tugend, jährlich den Zwölfeinhalbprozent-Orden zu vergeben, nebst zugehörigem Papageien, der dem herausragendsten Piraten in den Gewässern des öffentlich artikulierten Wortes zusteht. Warum Zwölfeinhalbprozent? Wieder mal das falsche Buch gelesen, was, wieder Brecht oder sowas Kulturelles. Da gibt es denn auch keine Gnade von mir, allein einen Hinweis: Ab die Post! Nur ist der eigentlich vorgesehene Titelträger diesen Jahres ja leider exiliert worden. Und "Vielleicht sollten wir einfach alles Doping zulassen, dann haben ja alle gleiche Chancen" wirkt irgendwie zu naiv. Aber, not to worry: Es wird einer kommen. Soviel Prophet bin selbst ich.

... link (0 Kommentare)   ... comment